Krieg und Frieden
von Herrmann Hesse aus "Neue Züricher Zeitung" vom 6. 10. 1918 unter dem Titel »Gedanken« Gewiß haben jene recht, welche den Krieg den Ur- und natürlichen Zustand nennen. Insofern der Mensch ein Tier ist, lebt er durch Kampf, lebt auf Kosten anderer, fürchtet und haßt andere. Leben ist also Krieg.
Was »Friede« sei, ist viel schwerer zu bestimmen. Friede ist weder ein paradiesischer Urzustand noch eine Form durch Übereinkunft geregelten Zusammenlebens. Friede ist etwas, was wir nicht kennen, was \\TI nur uchen und ahnen. Friede ist ein Ideal. Er ist etwas unsäglich Kompliziertes, Labiles, Bedrohtes - ein Hauch genügt, um ihn zu zerstören. Daß auch nur zwei Menschen, die aufeinander angewiesen in wahrem Frieden miteinander leben, ist seltener und schwieriger als jede andere ethische oder intellektuelle Leistung. Dennoch ist der Friede, als Gedanke und Wunsch, als Ziel und Ideal, schon sehr alt. Seit Jahrtausenden schon besteht das mächtige, für Jahrtausende grundlegende Wort: »Du sollst nicht töten.« Daß der Mensch solcher Worte, solch ungeheurer Forderungen fähig ist, das kennzeichnet ihn mehr als jedes andere Merkmal, es scheidet ihn vom Tier trennt ihn scheinbar von der »Natur«. Der Mensch, so fühlen wir bei solchen mächtigen Worten, ist nicht Tier, er ist überhaupt nichts Festes, Gewordenes und Fertiges, nichts Einmaliges und Eindeutiges, sondern etwas Werdendes, ein Versuch, eine Ahnung und Zukunft, Wurf und Sehnsucht der Natur nach neuen Formen und Möglichkeiten .... Das »Du sollst nicht töten!« ist nicht das starre Gebot eines lehrhaften »Altruismus«. Altruismus ist etwas, was in der Natur nicht vorkommt. und » Du sollst nicht töten!« heißt nicht: Du sollst dem andern nicht weh tun! Es heißt: Du sollst dich selbst des andern nicht berauben, du sollst dich selbst nicht schädigen! Der andere ist ja kein Fremder, ist ja nicht Fernes, Beziehungsloses, für sich Lebendes. Alles auf der Welt. alle die tausend »anderen« sind ja für mich nur da, insofern ich sie ehe, sie fühle, Beziehungen zu ihnen habe. Aus Beziehungen zwischen mir und der Welt, den »anderen«, besteht ja einzig mein Leben. . . Völlig falsch jedenfalls war die Meinung, die man während des Krieges oft äußern hörte: Dieser Krieg sei schon durch seinen bloßen Umfang, seine gräßliche Riesenmechanik geeignet, künftige Generationen vom Kriege abzuschrecken. Abschrecken ist kein Erziehungsmittel. Wem das Töten Spaß macht, dem wird es durch keinen Krieg verleidet. Auch die Einsicht in den materiellen Schaden, den der Krieg anrichtet, wird gar nichts helfen. Die Handlungen der Menschen entspringen kaum zu einem Hundertstel rationalen Erwägungen. Man kann völlig von der Unsinnigkeit irgendeines Tuns überzeugt sein und es dennoch inbrünstig tun. Jeder Leidenschaftliche tut so. - ... Aber wie jeder totgeschossene Soldat die ewige Wiederholung eines Irrtums ist, so wird auch die Wahrheit, in tausend Formen, ewig und immer wiederholt werden müssen.